Allsonntäglich entfaltet sich ab 20 Uhr die neue deutsche TV-Dreifaltigkeit: Tagesschau, Tatort, Talk mit Sabine Christiansen. Nach den Mythen der Tagesschau (Staatsmänner, Kriege, Katastrophen, Sport) und den tröstlichen Gewissheiten des Tatorts (Alle haben Dreck am Stecken) sondiert Sabine Christiansen das Gesellschaftsterrain. Unerbittlich stellt sie Fragen, die in das Dunkel unserer Zukunft weisen. Es treten auf: die Lobbyisten und ihre Statthalter im Parlament. Multimillionäre warnen davor, dass es kurz vor zwölf sei. Aber, bitte sehr, man könne ja auch ins Ausland gehen. Politiker führen entschlossen das Drama der Sachzwänge auf. Die große Koalition der Dauerreformer gibt sich die Ehre. Fast noch wichtiger als das, was gesagt wird, ist, was systematisch nicht gesagt wird. Komplexe Themen werden dramatisch vereinfacht und fortan in diese Richtung öffentlich diskutiert. Insofern eignet sich diese Sendung wie keine andere, um zu begreifen, wohin die Deutschland AG steuert. (Klappentext)
Medienkritik ist wahrlich nichts neues. Von Platons Schriftkritik über Wittgenstein bis hin zu Luhmann und den Hyperlink-Theoretikern scheint das Thema derart beackert, dass die meisten nur noch müde abwinken: »Alles schon gehört, längst erledigt, Thema für Alt-Linke und Rhetorik-Spinner«.
Jaja, aber: Eine direkte Verzahnung der medien-/schrift-/kulturkritischen Theorien mit ihren praktischen Sujets scheint mir nur anhand von soziologischen Fallstudien zu existieren, deren Ergebnisse zwar verwertet, aber nicht von beliebigen Lesern direkt nachvollzogen werden können. Deshalb meine Freude über dieses Buch. Aha, dachte ich mir, da packt endlich mal jemand am konkreten Beispiel die Quasselrunde an den Eiern. Dachte ich. Geschnitten.
Denn obwohl der Klappentext, der Titel und das Umschlagbild eindeutig signalisieren, es gehe um ebenjene Talkshow »Sabine Christiansen«, will van Rossum eher den ganz großen politischen Bogen schlagen. Die Sendung scheint nur als Feigenblatt für die unverhohlene Neoliberalismus-Kritik van Rossums zu dienen. Natürlich hat diese Kritik ihre Berechtigung, immer mehr sogar. Aber van Rossum muss sich schon die Frage gefallen lassen, warum er dann das trojanische Pferd »Praktische Medienkritik« reiten muss. Zumal seine Analysen bisweilen ins Konspirative hineinragen. Wenn er zum Beispiel in stets gallig-polemischen Ton
die Politiker,
die Sendung und
die Frau Christiansen in einen kausalen Zusammenhang setzt, als würden sie gemeinsam in den Katakomben des Bundestages das nächste Unheil aushecken, um den kleinen Bürger bluten zu lassen. An solchen Stellen geht van Rossum zu weit, weil er es sich zu einfach macht. Richtig dagegen seine (hier leider nur: impliziten) Beobachtungen zur gegenseitigen Einflußnahme von Politik und Medien und den dadurch produzierten Wahrheiten. Aber auch das kann man anderswo besser, tiefer und sorgfältiger argumentiert nachlesen (empfohlen sei hier Andreas Dörners »Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft«).
Noch ein Buch muss erwähnt werden: Der von Stefan Münker und Alexander Roesler herausgegebene Reader »Televisionen« befasst sich mit der goldenen Vergangenheit, ernüchternden Gegenwart und – so die Herausgeber – düsteren Zukunft des Leitmediums Fernsehen. Highly recommended!
[Nachtrag:
»Die Gastgeberin, von Anbeginn ihrer Laufbahn darin geübt, einen nicht vorhandenen Verstand zu simulieren, spricht analog ihrer Sendung eine Bedeutung zu, die sie nicht hat«]
Walter van Rossum: »Meine Sonntage mit ›Sabine Christiansen‹. Wie das Palaver uns regiert«. – Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, 3. Auflage [=KiWi Paperback 831] | 185 Seiten; 8,90 €; ISBN: 3-462-03394-8 |
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Buecher.de
Andreas Dörner: »Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft«. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, 1. Auflage [=edition suhrkamp 2203] | 256 Seiten; 11 €; ISBN: 3-518-12203-7 |
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Buecher.de
Stefan Münker, Alexander Roesler (Hrsg.): »Televisionen«. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, 1. Auflage [=edition suhrkamp 2091] | 239 Seiten; 7 Abb.; 10 €; ISBN: 3-518-12091-3 |
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