txt - 28. Dez, 20:56

Susan Sontags Friedenspreisrede 2003 in Auszügen

Sind Amerika und Europa Feinde?


Alle modernen Kriege, auch wenn ihre Motive die herkömmlichen sind, etwa das Streben nach territorialer Vergrößerung oder nach Aneignung knapper Ressourcen, werden als Zusammenstöße von Zivilisationen – als Kulturkriege – inszeniert, wobei jede Seite sich auf ein höheres Recht beruft und die andere Seite für barbarisch erklärt. Der Feind ist unweigerlich eine Bedrohung »unserer Lebensweise« – er ist ein Ungläubiger, ein Schänder, ein Beschmutzer, der höhere oder bessere Werte besudelt. Der derzeitige Krieg gegen die sehr reale Bedrohung, die vom militanten islamischen Fundamentalismus ausgeht, ist dafür ein besonders deutliches Beispiel. Bemerkenswert ist allerdings, dass die gleichen Formen von Geringschätzung in abgemilderter Form auch dem Antagonismus zwischen Europa und Amerika zugrunde liegen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass, historisch betrachtet, die bösartigste antiamerikanische Rhetorik, die in Europa je zu hören war und die im Wesentlichen auf den Vorwurf hinauslief, Amerikaner seien Barbaren, nicht etwa von der so genannten Linken, sondern von der extremen Rechten ausging. Sowohl Hitler als auch Franco ließen sich mehrfach über ein Amerika (und ein Weltjudentum) aus, das mit seinen niedrigen, auf nichts als Geschäftemacherei gerichteten Wertvorstellungen die europäische Kultur verderben wolle.

Natürlich bewundert ein großer Teil der öffentlichen Meinung in Europa auch weiterhin die amerikanische Tatkraft und die amerikanische Vorstellung von »Modernität«. Und natürlich hat es in Amerika immer Anhänger und Anhängerinnen der kulturellen Ideale Europas gegeben (eine solche steht hier vor Ihnen), die die alten Künste Europas als eine Befreiung und als Korrektiv gegenüber dem betriebsamen Unternehmergeist der amerikanischen Kultur empfanden. Und auf europäischer Seite gab es immer das Pendant zu solchen Amerikanern: Europäer, die sich von den Vereinigten Staaten gerade wegen ihrer Verschiedenheit von Europa fasziniert, verzaubert und zutiefst angezogen fühlen.

Die heutige Sicht der Amerikaner läuft fast auf eine Umkehrung des europhilen Klischees hinaus: Sie betrachten sich als Verteidiger der Zivilisation. Die Barbarenhorden stehen nicht mehr draußen vor den Toren. Sie sind nun drinnen, in jeder reichen Stadt und sinnen dort auf Tod und Zerstörung. Deshalb müssen die »Schokolade fabrizierenden« Länder (Frankreich, Deutschland, Belgien) beiseite treten, während ein Land voller »Willensstärke« – und mit Gott an seiner Seite – die Schlacht gegen den Terrorismus schlägt (der inzwischen mit der Barbarei in eins gesetzt wird).

Außenminister Powell zufolge ist es lächerlich, wenn das alte Europa (manchhmal scheint auch nur Frankreich gemeint zu sein) eine Rolle in Politik und Verwaltung der von der Siegerkoalition eingenommenen Gebiete spielen will. Dieses Europa verfüge weder über die militärischen Mittel dazu noch über den nötigen Sinn für die Anwendung von Gewalt, und obendrein fehle ihm auch die Unterstützung seiner verwöhnten, allzu friedfertigen Bevölkerungen. Den Amerikanern stehe all dies reichlich zu Gebote. Den Europäern hingegen mangele es an missionarischem – oder kriegerischem – Eifer.

Manchmal muss ich mich kneifen, um sicher zu sein, dass ich nicht träume: Der Vorwurf, den viele Menschen in Amerika Deutschland heute machen, diesem Deutschland, das fast ein Jahrhundert lang solche Schrecken über die Welt gebracht hat – man könnte auch sagen, das neue »deutsche Problem« –, besteht nun offenbar darin, dass sich die Deutschen vom Krieg abgestoßen fühlen, dass ein großer Teil der öffentlichen Meinung im heutigen Deutschland praktisch pazifistisch ist!
Waren Amerika und Europa denn nie Partner, nie Freunde?

Doch, das waren sie. Aber vielleicht waren die Perioden der Einigkeit – der Einmütigkeit – eher eine Ausnahme als die Regel. Eine solche Ausnahmephase war die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zu den Anfängen des Kalten Krieges, als die Europäer Amerika für seine Einmischung, für seinen Beistand und seine materielle Hilfe zutiefst dankbar waren. Die Amerikaner sehen sich gern in der Rolle des Retters von Europa. Deshalb erwartet Amerika von den Europäern eine immer währende Dankbarkeit, nach der den Europäern im Augenblick jedoch nicht der Sinn steht.

Aus der Sicht des »alten« Europas ist Amerika dabei, die Bewunderung – und die Dankbarkeit – zu verspielen, die die meisten Europäer einmal empfunden haben. Die gewaltige Woge der Sympathie für die Vereinigten Staaten nach dem Angriff vom 11. September 2001 war echt. (Ich selbst kann ihre Intensität und ihre Aufrichtigkeit in Deutschland bezeugen; ich war zu diesem Zeitpunkt in Berlin.) Doch dann folgte eine zunehmende Entfremdung auf beiden Seiten.

Die Bürger der reichsten und mächtigsten Nation in der Geschichte müssen sich klar machen, dass Amerika geliebt und beneidet, aber auch mit Groll betrachtet wird. Nicht wenige von ihnen erfahren bei Reisen ins Ausland, dass Amerikaner in den Augen vieler Europäer für raubeinig, ungehobelt, unkultiviert gelten, und zögern nicht, diese Einschätzungen als einen Ausdruck von Ressentiment gegen die Kolonisten von ehedem zu deuten.

Und manche kultivierten Europäer, die sich anscheinend besonders gern in den Vereinigten Staaten aufhalten oder dort leben, bescheinigen diesem Land auf eine seltsam herablassende Art die befreienden Vorzüge einer Kolonie, in der man die »daheim« geltenden Beschränkungen und die aus der dortigen Kultiviertheit erwachsenden Bürden abschütteln kann. Ich erinnere mich, wie mir ein deutscher Filmemacher, der zeitweise in San Francisco lebte, eines Tages erklärte, warum er so gern in den Staaten sei: »Weil ihr hier überhaupt keine Kultur habt.«

Für etliche Europäer war Amerika die Rettung (auch für D. H. Lawrence, der 1915, als er sich in Amerika niederzulassen plante, an einen Freund schrieb: »Dort kommt das Leben direkt aus den Wurzeln, rau, aber kraftvoll«). Und umgekehrt: Für Generationen von Amerikanern auf der Suche nach »Kultur« war Europa die Rettung. Ich spreche hier natürlich nur von Minderheiten – privilegierten Minderheiten.

So kommt es, dass Amerika sich heute als Verteidiger der Zivilisation und Retter Europas sieht und sich gleichzeitig fragt, warum die Europäer das nicht begreifen; die Europäer wiederum sehen Amerika als einen rücksichtslosen Kriegerstaat, was die Amerikaner ihrerseits veranlasst, Europa als einen Feind Amerikas zu betrachten: Europa täusche seinen Pazifismus nur vor, so hört man in den Vereinigten Staaten inzwischen immer häufiger, um in Wirklichkeit an einer Schwächung der Macht Amerikas mitzuwirken.

Vor allem Frankreich, so glaubt man, sei bestrebt, Amerika auf der Ebene der Weltpolitik ebenbürtig zu werden oder gar den Rang abzulaufen. »Die Operation Amerika muss scheitern«, lautet das Motto, das ein Kolumnist der New York Times für das französische Vormachtstreben erfunden hat. Statt dessen täte auch Frankeich besser daran, zu erkennen, dass eine amerikanische Niederlage im Irak die »radikalen muslimischen Gruppen von Bagdad bis in die muslimischen Slums von Paris« in ihrem Dschihad gegen Toleranz und Demokratie nur ermutigen würde.

Den Menschen fällt es schwer, die Welt nicht in polarisierenden Kategorien (»die« und »wir«) zu sehen. Diese Kategorien haben in der Vergangenheit die isolationistischen Tendenzen der amerikanischen Außenpolitik so gestärkt, wie sie jetzt deren imperialistische Tendenzen stärken.

Die Amerikaner haben sich daran gewöhnt, die Welt als eine Welt von Feinden wahrzunehmen. Diese Feinde sind anderswo, denn gekämpft wird fast immer over there – »drüben« –, auch nachdem der islamische Fundamentalismus den russischen und den chinesischen Kommunismus als Bedrohung »unserer Lebensweise« abgelöst hat. Und das Wort Terrorist lässt sich noch flexibler verwenden als das Wort Kommunist.

Es kann eine noch größere Zahl unterschiedlicher Auseinandersetzungen und Interessen unter einen Hut bringen, und das bedeutet: Der Krieg gegen den Terrorismus wird möglicherweise nie enden, denn Terrorismus wird es immer geben (so wie es immer Armut und Krebs geben wird); immer wird es asymmetrische Konflikte geben, in denen die schwächere Seite diese Form von Gewalt anwendet, die sich meist gegen Zivilisten richtet. Die amerikanische Rhetorik, wenn auch nicht unbedingt die Stimmung in der Bevölkerung, bekräftigt diese unerfreuliche Perspektive, denn der Kampf für das Gute endet nie.
Es gehört zum Genius der Vereinigten Staaten, deren tief verwurzelter Konservativismus für Europäer schwer zugänglich ist, dass sie eine Form von konservativem Denken entwickelt haben, die das Neue und nicht etwa das Alte feiert.
Das bedeutet aber auch, dass die Vereinigten Staaten in eben jenen Zügen, in denen sie extrem konservativ erscheinen – zum Beispiel in der ungewöhnlichen Macht des Konsensus, in der Passivität und im Konformismus der öffentlichen Meinung (wie Tocqueville schon 1831 bemerkte) und der Medien –, auch auf eine Weise radikal und sogar revolutionär sein können, die für Europäer ebenso schwer zugänglich ist.

Zum Teil erklärt sich diese Rätselhaftigkeit aus dem Zwiespalt zwischen offizieller Rhetorik und Lebenswirklichkeit. Ständig pochen Amerikaner auf »Traditionen«; im Mittelpunkt jeder politischen Rede stehen Lobgesänge auf die »Familienwerte«. Dabei ist die amerikanische Kultur dem Familienleben sehr abträglich und allen anderen Traditionen ebenfalls – ausgenommen jenen, die in persönliche »Identitäten« umdefiniert werden können und sich in die umfassenderen Muster von individueller Erkennbarkeit bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Kooperation und Offenheit für Erneuerung fügen.
Die vielleicht wichtigste Quelle des neuen (und des nicht ganz so neuen) amerikanischen Radikalismus ist eben jene, die man früher immer als eine Quelle konservativer Werte angesehen hat: die Religion.

Viele Beobachter haben darauf hingewiesen, dass der größte Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und den meisten europäischen Ländern (den nach der aktuellen amerikanischen Nomenklatur »alten« wie den »neuen«) wahrscheinlich darin besteht, dass die Religion in der Gesellschaft und im öffentlichen Diskurs der Vereinigten Staaten nach wie vor eine zentrale Rolle spielt. Es handelt sich hierbei allerdings um eine Religion nach amerikanischem Muster: eher um die Idee von Religion als um Religion selbst.

Gewiss, als während des Präsidentschaftswahlkampfs im Jahre 2000 ein Journalist auf die Idee kam, den Kandidaten George Bush nach seinem »Lieblingsphilosophen« zu fragen, bekam er eine Antwort, mit der sich jeder Kandidat irgendeiner großen Volkspartei in jedem europäischen Land lächerlich gemacht hätte: »Jesus Christus.«

Aber Bush wollte damit natürlich nicht sagen, dass sich seine Regierung im Falle seiner Wahl an irgendwelche von Jesus entwickelten Grundsätze oder Sozialprojekte gebunden fühlen würde, und es hat ihn auch niemand so verstanden.
Die Vereinigten Staaten sind in einem sehr allgemeinen Sinne eine religiöse Gesellschaft. Das heißt, es kommt nicht darauf an, welcher Religion man angehört, solange man überhaupt eine hat. Die Vorherrschaft einer Religion oder gar eine Theokratie (ob allgemein christlich oder von einer bestimmten christlichen Konfession geprägt) wäre unmöglich. Religion muss in Amerika eine Sache der freien Wahl des Einzelnen bleiben.

Diese moderne, vergleichsweise inhaltsleere Vorstellung von Religion, die der Freiheit des Konsumenten strukturell ähnlich ist, bildet die Grundlage für den Konformismus Amerikas, für seine Selbstgerechtigkeit und seinen Moralismus (den die Europäer herablassend häufig als Puritanismus missdeuten). Gleichgültig, welche historischen Glaubensgrundsätze die verschiedenen religiösen Gruppierungen in Amerika zu vertreten behaupten – alle predigen etwas Ähnliches: den Willen zur inneren Besserung, den Wert des Erfolgs, Solidarität in der Gemeinde und Toleranz gegenüber den Entscheidungen anderer (lauter Tugenden, die dem reibungslosen Funktionieren des Konsumkapitalismus förderlich sind).

Die bloße Tatsache, dass man religiös ist, sichert das Ansehen, trägt zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei und liefert eine Garantie dafür, dass sich die Vereinigten Staaten ausschließlich mit guten Absichten auf ihre Mission einlassen, die Welt zu führen.

Was da verbreitet wird – ob man es nun Demokratie oder Freiheit oder Zivilisation nennt –, ist sowohl Teil eines work in progress als auch der Kern des Fortschritts selbst. Nirgendwo auf der Welt ist der aufklärerische Traum vom Fortschritt auf so fruchtbaren Boden gefallen wie in Amerika.

Sind wir also wirklich so weit auseinander? Wie sonderbar, dass in einem Augenblick, da Europa und Amerika einander kulturell so ähnlich sind wie noch nie, der Zwiespalt zwischen ihnen tiefer ist als je zuvor.

Und dennoch – trotz aller Ähnlichkeiten zwischen dem Alltag der Bürger in den reichen europäischen Ländern und dem Alltag der Amerikaner – ist die Kluft zwischen der europäischen und der amerikanischen Erfahrung tatsächlich vorhanden. Sie ergibt sich aus wichtigen historischen Unterschieden, aus unterschiedlichen Vorstellungen von der Rolle der Kultur und aus Unterschieden in den wirklichen und den imaginären Erinnerungen.

Der Antagonismus – denn es besteht ein Antagonismus – lässt sich in der unmittelbaren Zukunft nicht lösen, allem guten Willen vieler Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks zum Trotz. Und doch kann man diejenigen nur verurteilen, die diese Unterschiede noch vergrößern wollen, während wir doch tatsächlich so viel gemeinsam haben.

Die Vorherrschaft Amerikas ist eine Tatsache. Aber Amerika, wie inzwischen auch seine derzeitige Regierung einzusehen beginnt, kann nicht alles allein machen. Die Zukunft unserer Welt – unserer gemeinsamen Welt – ist synkretistisch, unrein. Wir können uns nicht voneinander abkapseln. Wir fließen immer mehr ineinander.

Am Ende wird sich alle Verständigung – alle Aussöhnung –, zu der wir gelangen können, daraus ergeben, dass wir gründlicher über den ehrwürdigen Gegensatz zwischen »Altem« und »Neuem« nachdenken. Der Gegensatz zwischen »Zivilisation« und »Barbarei« beruht im Wesentlichen auf mehr oder minder willkürlichen Setzungen; sich in Gedanken auf ihn ein- und dogmatisch über ihn auszulassen, führt in die Irre, auch wenn sich bestimmte Realitäten in ihm spiegeln. Der Gegensatz zwischen Alt und Neu dagegen ist echt und unaufhebbar und steht im Zentrum dessen, was wir unter Erfahrung verstehen.
Alt und Neu sind die ewigen, unumstößlichen Pole aller Wahrnehmung und aller Orientierung in der Welt. Ohne das Alte kommen wir nicht aus, weil sich mit ihm unsere ganze Vergangenheit, unsere Weisheit, unsere Erinnerungen, unsere Traurigkeit, unser Realitätssinn verbinden. Ohne den Glauben an das Neue kommen wir nicht aus, weil sich mit dem Neuen unsere Tatkraft, unsere Fähigkeit zum Optimismus, unser blindes biologisches Sehnen, unsere Fähigkeit zu vergessen verbinden – diese heilsame Fähigkeit, ohne die Versöhnung nicht möglich ist.

Unser Innenleben misstraut dem Neuen. Ein stark entwickeltes Innenleben wird sich dem Neuen besonders heftig widersetzen. Es heißt, wir sollen uns entscheiden – zwischen dem Alten und dem Neuen. In Wirklichkeit müssen wir uns für beides entscheiden. Was ist das Leben, wenn nicht ein ständiger Austausch zwischen Altem und Neuem? Mir scheint, man sollte immer versuchen, sich solche starren Gegensätze auszureden.

Alt gegen Neu, Natur gegen Kultur – vielleicht ist es unvermeidlich, dass sich die großen Mythen unseres Kulturlebens nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Geografie abspielen. Und dennoch sind es Mythen, Klischees, Stereotypen – sonst nichts; die Wirklichkeiten sind sehr viel komplexer. […]


Quelle: taz Nr. 7180 vom 13.10.2003, Seite 4, 449 Dokumentation

wiesengrund - 28. Dez, 20:59

RIP

Just diesen Aufsatz diskutierte ich damals noch mit meinem ehemaligen Deutschprof, der mich noch zu Schulzeiten auf Sontag brachte. Ein wirklich trauriger Tag heute.
txt - 28. Dez, 21:03

Ja,

und ein trauriges Jahr, in dem ich mich mehr und mehr frage: Wer bleibt?

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